Um zu erkennen,
dass etwas Großes passiert in Europa, reicht es die Menschenmassen vor den
Wahllokalen zu betrachten. Leute stehen Schlange und setzen sich Polizeigewalt aus –
und das alles um wählen zu dürfen. In Zeiten von Politikverdrossenheit
eigentlich undenkbar. Ein Recht wird umso kostbarer, wenn es nicht selbstverständlich
ist. Dies gilt am 1. Oktober 2017 für das Wahlrecht in Katalonien – es gilt in
Katalonien aber auch für das Recht auf Freiheit und Selbstbestimmung.
Langfristigen
Frieden in Europa erreicht man am besten damit, dass man bestehende Grenzen
nicht anrührt, keine alten Wunden aufreißt und wenn möglich alles so belässt
wie es ist. Dies ist eine weit verbreitete Meinung unter Europas Eliten, die bei
dieser Gelegenheit gerne darauf verweisen, dass ohnehin die EU mit ihrem starken
und wachsenden Einfluss die Nationalstaaten überflügelt. Diese Optik wirft
gleich mehrere Fragen auf: Wer entschiedet ab wann die Grenzen als „in Stein
gemeißelt“ gelten und wer entschiedet welche es sein sollen. Warum darf der Kosovo
unabhängig werden, warum darf die Slowakei ein Staat sein, warum wird dieses
Recht auf Unabhängigkeit aber Katalonien verwehrt? Das Recht auf Unabhängigkeit
darf kein Verfallsdatum haben und es darf nicht daran scheitern, dass ein paar
Bürokraten in Brüssel vor der damit verbundenen Bürokratie zurückschrecken.
Warum überhaupt Katalonien, und warum jetzt?, das fragen sich gerade viele. „Warum
nicht?“ frage ich zurück. Katalonien ist eine weltoffene Region, die nicht aus
geschichtsrevanchistischen Gründen die Unabhängigkeit anstrebt sondern diese
als ein ambitioniertes Zukunftsprojekt sieht. Alle ethnischen Gruppen und alle
sozialen Schichten stehen in gleichem Maße hinter dem Projekt – es wird also
niemand gegeneinander ausgespielt. Auch folgt die Unabhängigkeitsbewegung keiner Agenda einer rechten Partei - die Eigenstaatlichkeit ist ein
überparteiliches Projekt.
Abgesehen von geschichtlichen Ereignissen und der eigenen Sprache sind es auch aktuelle Entwicklungen, die die Region am Mittelmeer zur Unabhängigkeit bewegen. Katalonien nimmt
schon heute seine Verantwortung in Europa und in der Welt wahr und agiert in
Krisensituationen (Fluchtlingskrise, Terrorangriffe) souverän. Die Regionalregierung hat es in den letzten Jahren erfolgreich
geschafft, eine katalonische Gemeinschaft aufzubauen. Wie keine andere Region in
Spanien schaffte man es, Zuwanderer zu
integrieren und eine pluralistische und zugleich katalanische Gesellschaft aufzubauen. Rund um Barcelona
boomt der Tourismus, es gibt zahlreiche internationale Unternehmen, die Gegend
ist bei Expats sehr beliebt. Barcelona, das steht für Moderne, für Fortschritt und
Weltoffenheit. Mit dieser Entwicklung hat sich der Spalt zum spanischen Staat
weiter geöffnet. Das neue Autonomiestatut, das das Verfassungsgericht
zurückgewiesen hat, tat das übrige dazu – die Unabhängigkeitsbewegung wurde gestärkt.
Aber...aber die Verfassung verbietet die Unabhängigkeit – werden jetzt viele
schreien. Ja, stimmt - die Aufgabe der Verfassung ist es aber auch den Staat zu
definieren. Dass diese keine Sezession vorsieht ist daher nicht überraschend.
Ein Unabhängigkeitsreferendum anhand der Verfassung zu delegitimieren ist mehr als hanebüchen. Die Legitimation des Brexit stellt (im Gegensatz zur
Sinnhaftigkeit) keiner Infrage– die Bevölkerung hat ihren Willen demokratisch bekundet
und wo ein Wille da ein Weg. Wenn es keinen gibt muss er geschaffen und
ausgehandelt werden, wenn es auch noch so mühsam ist – so funktioniert
Demokratie. Wenn ein Gebiet friedlich und demokratisch den Weg zur Unabhängigkeit
gehen will, was soll daran illegal sein?
Zum Schluss noch
Europa. Ist es das Ende der EU, wenn sich Regionen von Staaten abspalten? Nein,
im Gegenteil. Es ist der Anfang eines postnationalistischen Europas. Eines
Europas in dem die Nationalstaaten (die ohnehin keine Nationalstaaten im
eigentlichen Sinne sind und es nie waren) ihren Einfluss verlieren und Regionen
gestärkt werden. Regionen können auf lokale Eigenheiten, auf kulturelle
Minderheiten, auf ethnische Besonderheiten Rücksicht nehmen, während die EU das
große Ganze steuert. Staaten brauchen wir da höchstens noch
als Verwaltungsbezirke – und wen schert’s, wenn sich da Grenzen verschieben. Das
Referendum in Schottland, jenes in Katalonien, das angestrebte im Veneto und
viele weitere Bewegungen in Europa haben gezeigt: Nationalstaaten werden dem 21.
Jahrhundert nicht gerecht: zu klein für die globalisierte Welt, zu groß um
lokalen Eigenheiten Rechnung zu tragen.
Dass es zu einem
unabhängigen Catalunya kommt, davon bin ich mittlerweile überzeugt. Spanien hat mit
seinen faschistoiden Reaktionen jede Glaubwürdigkeit und jede Sympathie
verspielt – in Katalonien, in Europa und in der Welt. Zuviel Porzellan ist
zerbrochen, als dass man die Katalanen nochmals mit einer Autonomie besänftigen
könnte. Die Unabhängigkeitsbewegung in Katalonien ist friedlich, demokratisch,
vorwärtsgewandt und weltoffen – ich sehe keinen Grund, ihr nicht alles Beste und
allen Erfolg zu wünschen.
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