Markus und Fabian teilen sich eine Wohnung in Bozen. Und sie teilen die Leidenschaften, leidenschaftlich zu diskutieren und pointiert zu schreiben. In ihrer Küche wird über kompletten Nonsens genauso gerne diskutiert wie über die aktuelle Weltpolitik (nur gekocht wird dort nicht so oft). Ähnlich soll es in diesem Blog passieren.
Das Konzept: beide schreiben einmal pro Monat mit einer vorgegebenen Zeichenzahl ihre Meinung zu einem vorgegebenen Thema. Eine Woche nach Veröffentlichung wird abgerechnet: wer hat mit seinem Text mehr Views und Likes erreicht?
Der Verlierer muss den Müll runterbringen. Der Gewinner darf das Thema für den nächsten Monat bestimmen. Vorschläge dürfen natürlich auch von euch Lesern kommen.
Gute Unterhaltung beim „Battle of Blogs“!

Dienstag, 3. Oktober 2017

Warum sich Katalonien die Unabhängigkeit redlich verdient hat (Fabian)

Um zu erkennen, dass etwas Großes passiert in Europa, reicht es die Menschenmassen vor den Wahllokalen zu betrachten. Leute stehen Schlange und setzen sich Polizeigewalt aus – und das alles um wählen zu dürfen. In Zeiten von Politikverdrossenheit eigentlich undenkbar. Ein Recht wird umso kostbarer, wenn es nicht selbstverständlich ist. Dies gilt am 1. Oktober 2017 für das Wahlrecht in Katalonien – es gilt in Katalonien aber auch für das Recht auf Freiheit und Selbstbestimmung.



Langfristigen Frieden in Europa erreicht man am besten damit, dass man bestehende Grenzen nicht anrührt, keine alten Wunden aufreißt und wenn möglich alles so belässt wie es ist. Dies ist eine weit verbreitete Meinung unter Europas Eliten, die bei dieser Gelegenheit gerne darauf verweisen, dass ohnehin die EU mit ihrem starken und wachsenden Einfluss die Nationalstaaten überflügelt. Diese Optik wirft gleich mehrere Fragen auf: Wer entschiedet ab wann die Grenzen als „in Stein gemeißelt“ gelten und wer entschiedet welche es sein sollen. Warum darf der Kosovo unabhängig werden, warum darf die Slowakei ein Staat sein, warum wird dieses Recht auf Unabhängigkeit aber Katalonien verwehrt? Das Recht auf Unabhängigkeit darf kein Verfallsdatum haben und es darf nicht daran scheitern, dass ein paar Bürokraten in Brüssel vor der damit verbundenen Bürokratie zurückschrecken.

Warum überhaupt Katalonien, und warum jetzt?, das fragen sich gerade viele. „Warum nicht?“ frage ich zurück. Katalonien ist eine weltoffene Region, die nicht aus geschichtsrevanchistischen Gründen die Unabhängigkeit anstrebt sondern diese als ein ambitioniertes Zukunftsprojekt sieht. Alle ethnischen Gruppen und alle sozialen Schichten stehen in gleichem Maße hinter dem Projekt – es wird also niemand gegeneinander ausgespielt. Auch folgt die Unabhängigkeitsbewegung keiner Agenda einer rechten Partei  - die Eigenstaatlichkeit ist ein überparteiliches Projekt.

Abgesehen von geschichtlichen Ereignissen und der eigenen Sprache sind es auch aktuelle Entwicklungen, die die Region am Mittelmeer zur Unabhängigkeit bewegen. Katalonien nimmt schon heute seine Verantwortung in Europa und in der Welt wahr und agiert in Krisensituationen (Fluchtlingskrise, Terrorangriffe) souverän. Die Regionalregierung hat es in den letzten Jahren erfolgreich geschafft, eine katalonische Gemeinschaft aufzubauen. Wie keine andere Region in Spanien schaffte man es,  Zuwanderer zu integrieren und eine pluralistische und zugleich  katalanische Gesellschaft aufzubauen. Rund um Barcelona boomt der Tourismus, es gibt zahlreiche internationale Unternehmen, die Gegend ist bei Expats sehr beliebt. Barcelona, das steht für Moderne, für Fortschritt und Weltoffenheit. Mit dieser Entwicklung hat sich der Spalt zum spanischen Staat weiter geöffnet. Das neue Autonomiestatut, das das Verfassungsgericht zurückgewiesen hat, tat das übrige dazu – die Unabhängigkeitsbewegung wurde gestärkt.

Aber...aber die Verfassung verbietet die Unabhängigkeit – werden jetzt viele schreien. Ja, stimmt - die Aufgabe der Verfassung ist es aber auch den Staat zu definieren. Dass diese keine Sezession vorsieht ist daher nicht überraschend. Ein Unabhängigkeitsreferendum anhand der Verfassung zu delegitimieren ist mehr als hanebüchen. Die Legitimation des Brexit stellt (im Gegensatz zur Sinnhaftigkeit) keiner Infrage– die Bevölkerung hat ihren Willen demokratisch bekundet und wo ein Wille da ein Weg. Wenn es keinen gibt muss er geschaffen und ausgehandelt werden, wenn es auch noch so mühsam ist – so funktioniert Demokratie. Wenn ein Gebiet friedlich und demokratisch den Weg zur Unabhängigkeit gehen will, was soll daran illegal sein?

Zum Schluss noch Europa. Ist es das Ende der EU, wenn sich Regionen von Staaten abspalten? Nein, im Gegenteil. Es ist der Anfang eines postnationalistischen Europas. Eines Europas in dem die Nationalstaaten (die ohnehin keine Nationalstaaten im eigentlichen Sinne sind und es nie waren) ihren Einfluss verlieren und Regionen gestärkt werden. Regionen können auf lokale Eigenheiten, auf kulturelle Minderheiten, auf ethnische Besonderheiten Rücksicht nehmen, während die EU das große Ganze steuert. Staaten brauchen wir da höchstens noch als Verwaltungsbezirke – und wen schert’s, wenn sich da Grenzen verschieben. Das Referendum in Schottland, jenes in Katalonien, das angestrebte im Veneto und viele weitere Bewegungen in Europa haben gezeigt: Nationalstaaten werden dem 21. Jahrhundert nicht gerecht: zu klein für die globalisierte Welt, zu groß um lokalen Eigenheiten Rechnung zu tragen.

Dass es zu einem unabhängigen Catalunya kommt, davon bin ich mittlerweile überzeugt. Spanien hat mit seinen faschistoiden Reaktionen jede Glaubwürdigkeit und jede Sympathie verspielt – in Katalonien, in Europa und in der Welt. Zuviel Porzellan ist zerbrochen, als dass man die Katalanen nochmals mit einer Autonomie besänftigen könnte. Die Unabhängigkeitsbewegung in Katalonien ist friedlich, demokratisch, vorwärtsgewandt und weltoffen – ich sehe keinen Grund, ihr nicht alles Beste und allen Erfolg zu wünschen.  

Warum die Unabhängigkeit Kataloniens ein Blödsinn ist (Markus)

90 Minuten lang hat Emmanuel Macron letzten Dienstag eine mutige Zukunft Europas skizziert. Mit einer europäischen Armee. Einer europäischen Finanz- und Wirtschaftsunion. Einer europäischen Asylbehörde. Klingt alles ziemlich vernünftig. Eine katalonische Armee wäre hingegen ein ziemlicher Blödsinn.

Katalonien ruft den katalanischen Staat innerhalb der Republik Spanien aus. Damit wird eine Spirale der Gewalt ausgelöst, die zwei Jahre später im Bürgerkrieg endet. Am Ende gibt es einen Diktator.

Das war 1934 (bis 1939). Aber Geschichte wiederholt sich ja bekanntlich. Und weil Katalonien mit dem seit 1978 gültigen Autonomiestatut unzufrieden ist (und eine Ausweitung 2010 aufgrund einer Klage der rechtskonservativen Partei von Mariano Rajoy gescheitert ist), begeht die stolze Teilrepublik jetzt die Dummheit, mit einer undemokratischen Abstimmung (oder wie sollte man eine verbotene Abstimmung ohne Wählerlisten sonst nennen?) ganz Spanien, wenn nicht gar die gesamte Europäische Union, ins Chaos zu stürzen. Statt einfach abzuwarten, bis Rajoy nichts mehr zu melden hat und in Madrid wieder eine vernünftige (sozialistische) Regierung regiert, regiert nun vermutlich bald die Anarchie. Aber damit kennt man sich in Barcelona ja aus: 1936-1939 war Katalonien Schauplatz der einzigen (zeitweise) geglückten anarchistischen Revolution in der Europäischen Geschichte. Sagt zumindest Prof. Wikipedia, der muss es wissen.

Katalonien ist bekanntlich nicht die einzige aufmüpfige spanische Teilrepublik. Who’s next? Wer hat noch nicht Unabhängigkeit, wer will nochmal? Galizien? Baskenland? Balearen? Kanaren? Sollen die dann alle EU-Mitgliedsländer und Euroländer werden? Das ist doch Schwachsinn! Können wir uns nicht einfach darauf einigen, dass in Zukunft die wichtigen Entscheidungen auf europäischer Ebene getroffen werden (und zwar von einem demokratisch gewählten Europäischen Parlament, nicht vom merkelesken Rat der nationalen Befindlichkeiten) und die für die einzelnen Regionen wichtigen Dinge direkt in den Regionen entschieden werden? Die Nationalstaaten, diese seltsame aus der globalisierten Zeit gefallene Erfindung des ausgehenden 19. Jahrhunderts, behalten eine wichtige Koordinations- und Kommunikationsfunktion, aber sie geben „Macht“ nach oben und unten ab, um Teil eines starken, glokalisierten Europas sein zu können. Ein Europa der Regionen, das nicht – wie sich das Volker Kauder wünscht – deutsch spricht. Und das nicht – wie es derzeit der Fall ist – französisch spricht. Sondern das auch flämisch, katalonisch und korsisch spricht und die Interessen ALLER Bürgerinnen und Bürger beherzigt und vertritt.

Liebe kack-konservative spanische Zentralregierung: Wenn Katalonien Stierkämpfe verbieten will, dann soll Katalonien Stierkämpfe verbieten dürfen. Und wenn das Baskenland eine Finanzautonomie hat, dann sollte das für Katalonien doch auch möglich sein. Lasst die Katalonier ihre Sprache lernen und lehren. Nehmt sie ernst. Und hetzt nicht bewaffnete Polizisten auf sie. Sie sind schließlich eure Landsleute. Und das sollten sie auch bleiben.

Alles andere wäre ein Blödsinn.


Ein Referendum mit der Wahl zwischen Pest und Colera? Letzteres liegt auf jeden Fall in Katalonien.

Mittwoch, 24. Mai 2017

6 Gründe warum Trailrunning der beste Sport der Welt ist (Fabian)

Ein normaler Dienstag, Anfang April

04:55: Der Wecker läutet. Noch nicht mal 5 Uhr und es ist definitiv keine Uhrzeit um aufzustehen. Draußen ist es stockfinster, ziemlich kühl und auf den Bergen liegen noch Schnee und Eis. Im Bett hingegen ist es kuschelig warm und ich habe noch reichlich Zeit zum Schlafen.

„Warum nur?“ frage ich mich selbst. Niemand zwingt mich dazu, in die Kälte hinauszutreten, loszulaufen und 1000 Höhenmeter aufzusteigen. Niemand bezahlt mich dafür, niemand wird mir zujubeln und dort oben gibt es sich auch keine feschen Mädels die mir einen Blumenkranz umhängen. Was genau sind die Gründe, die mich für diesen Sport, den besten der Welt, motivieren?

5:10: In einem Anflug innerer Härte zu mir selbst strecke ich meine Füße aus dem Bett und lasse den Rest des Körpers folgen. Ein schnelles Frühstück (Wasser und Banane) und der Lauf geht los. 

5:30: Der Weg wird steiler und windet sich langsam nach Kohlern, ein kleiner Weiler auf 1100m Meereshöhe, ca. 900 Meter über Bozen. Als ich den Aufstieg beginne, habe ich auch schon Grund Nummer 1:

1) Es bringt dich an deine Grenzen und darüber hinaus

Es gibt eigentlich keine Grenzen für physische Anstrengungen. Körperliche Leistung wird in erster Linie durch den Kopf begrenzt. Du glaubst, 10km sind die längste Distanz die du laufen kannst? Solange du nicht versuchst weiter zu laufen, wird es wohl dabei bleiben. Trailrunning heißt, die Komfortzone zu verlassen. Lange Anstiege sorgen dafür, dass man es auf die harte Tour versteht: Wenn man wirklich auf den Berg will, kommt man auch hinauf. Wenn der Berg nicht zum Läufer will, dann muss der Läufer eben hochlaufen. Er mag seinen Anstieg langsam meistern, vielleicht nicht laufend sondern gehend, notfalls auf allen 4en. Geschwindigkeit ist nicht wirklich relevant in diesem Sport – es zählt das Ankommen.



5:40: Ich verlasse die Promenaden um Bozen und kreuze mich mit einer alten Dame, eine Taschenlampe in ihrer Linken, die Hundeleine in der Rechten. Ich versuche, sie mit meiner Stirnlampe nicht zu blenden und kriege mit, wie sie mich fragend ansieht.

2) Die Leute denken, du spinnst

Als ich zum ersten Mal in meinem Leben Trailrunner gesehen habe, dachte ich, irgendwas stimmt mit diesen Menschen nicht. Laufen am Berg, stundenlang, auf und ab – verrückt! Jetzt stelle ich diesen mitleidigen Blick öfters bei Wanderern fest, denen ich begegne, während ich mich Berge hochquäle oder nach unten sprinte. Meine Oma meinte kürzlich ich sei „komplett norrat“ und sie zündet in der Kirche eine Kerze an, damit ich keinen Herzinfarkt erleide. Wie auch immer – zu wissen, man wird für verrückt gehalten fühlt sich super an :) 

5:50: Was war das Geräusch? Welche Augen reflektieren da meine Stirnlampe aus dem Gebüsch? Laufen im Dunkeln hat etwas Gespenstisches. Das bringt uns zu Grund Nummer 3:

3) Trailrunning ist wie Laufen. Plus Abenteuer 

Wenn man gerne läuft und gerne in den Bergen ist, dann ist Trailrunning einfach der beste Sport den es gibt. Es ist wie Wandern aber intensiver: In wenigen Stunden mehrere Gipfelerlebnisse, Vegetationszonen und Ausblicke. Aber auch wie Laufen, nur aufregender. Verschiedene Bodenarten, Wetterbedingungen, Temperaturen und viel mehr Planung. Wer glaubt, Laufen sei langweilig, muss Trailrunning probieren. Wer glaubt Laufen sei bereits aufregend, der muss Trailrunning erst recht probieren.

6:05: Meine Stirnlampe ist seit 5 Minuten aus – es ist bereits hell. Langsam geht die Sonne auf und färbt den Talkessel in einem unglaublichen Rotton. Der Mond harrt wacker aus und steht nach wie vor über der Stadt. Grund Nummer 4

4) Die Natur

Schmale hochalpine Pfade, Bäche, Gipfel, Schneefelder, Blumenwiesen. Nicht selten sieht man all das an einem einzigen Morgen innerhalb weniger Stunden. Noch nie habe ich die Natur beim Sport so intensiv erlebt wie beim Trailrunning. Wenn du siehst wie dein Puls nach oben geht – nicht wegen der Anstrengung, sondern wegen der Aussicht – dann weißt du, du machst den schönsten Sport der Welt. Wer das Glück hat, diesen Sport in der schönsten Gegen der Welt ausüben zu dürfen, der hat den Jackpot gewonnen.

6:15: Die erste Seilbahnabfahrt ist um 7:00 – noch reichlich Zeit um etwas weiter zu laufen. Im Laufen greife ich zu einer einer Banane (massig Magnesium und Kohlenhydrate) und steure nach oben.

5) Man lernt sich selbst kennen

Ich hab mir nie groß den Kopf über Ernährung zerbrochen, oder darüber wie mein Körper funktioniert. Wenn man aber mehrere Stunden läuft, kommt man nicht drum herum seinen Körper ernst zu nehmen. Man muss verstehen was er verlangt und es ihm geben – am besten noch bevor er danach fragt. Ohne Essen wird wohl kaum jemand über 30km laufen, im Gebirge. Ohne Trinken wohl nicht mal 20km. Was genau man essen oder trinken soll – das kann man eigentlich nur selbst herausfinden – echte Selbstfindung eben. Ähnliches gilt für die Psyche. Früher oder später setzen bei jedem Zweifel und negative Gedanken ein, die gilt es, in Positive zu konvertieren. Es klingt vielleicht komisch, aber zum ersten Mal überhaupt habe ich mich durch das Trailrunning intensiv mit mir selbst auseinandergesetzt, meinem Körper und meiner Psyche.

6:45: Zurück im Weiler Kohlern und noch 15 Minuten bis zur Seilbahn – kaum jemand ist schon auf den Beinen. Die Fahrt werde ich mir wohl lediglich mit 3 jungen Damen teilen, die zur Arbeit fahren. Keine Wanderer, keine Biker. Grund Nummer 6:

6) Authentische Erfahrung

Berge verkommen leider ein ums and’re mal zu alpinen Disneylands. Pfade können mit dem Rollator befahren werden, Souvenir-Shops überall und natürlich ist der nächste Parkplatz mit 1000 Stellplätzen höchstens fünf Minuten entfernt. Für Bergfreunde, die sich ihr Bergerlebnis anders vorstellen, bietet Trailrunning eine echte Alternative. Bei meinem Trailrun auf den Vesuv habe ich das oben beschriebene Disneyland kurz betreten – und wieder verlassen. Denn, wenige hundert Meter entfernt vom exponiertesten Souvenirladen ist man wieder ganz für sich. Mutterseelenallein konnte ich den Vulkan und sein Umfeld genießen. Dasselbe gilt auch für die Alpen: auch an noch so touristischen Hotspots kann man den Massen ausweichen, wenn man nur früher da ist oder andere (längere) Pfade verwendet.

7:05: von der Talstation sind es noch knappe 3 km bis zu meiner Wohnung wo ich mich für die Arbeit fertigmache. Was für ein Gefühl! Hätte ich mich nicht aus dem Bett gequält würde ich jetzt erst aufstehen. Verschlafen, mürrisch und nach Kaffee lechzend. Wie viel besser fühlt sich das jetzt an!


Es sind die harten Entscheidungen die am Ende Glücksgefühle auslösen – und es sind die steilen Pfade die am reichsten Belohnt werden!

6 Gründe, warum Radfahren der tollste Sport der Welt ist (Markus)

1.264 Kilometer habe ich seit Anfang April für den Südtiroler Fahrradwettbewerb gesammelt. Viel zu wenige, wenn man bedenkt, WIE großartig Radfahren ist. Ich bin der festen Überzeugung, dass Radfahren der tollste Sport der Welt. Warum? Darum:


  1. Jeder kann es
    Ein Kletterer muss schwindelfrei sein, ein Eishockeyspieler muss Schlittschuh laufen können. Radfahren hingegen kann jeder. Wenn man die ersten Meter ohne Stützräder erfolgreich absolviert hat, steht dem schönsten Hobby und der tollsten Sportart der Welt nichts mehr im Wege.



  2. Man kann immer und überall
    Trailrunning auf Asphalt ist langweilig, Schwimmen ohne Wasser ist witzlos, Tennis ohne Tennisplatz ist schwierig – aber Radfahren kann man überall. Im Tal, auf dem Berg, auf Asphalt, auf Schotter, in Skandinavien, auf Sizilien. Wo immer du deinen Urlaub oder dein Wochenende verbringst – eine schöne radelbare Runde findet sich immer. Wo ein Wille ist, da ist auch ein Radweg.

  3. Die richtige Geschwindigkeit
    Dem Jogger wird am Fluss entlang schnell langweilig, der Autorennfahrer hat den Fluss gar nicht gesehen. Nur der Radfahrer hat die richtige Geschwindigkeit, um viele verschiedene Städte und Landschaften an einem Tag zu sehen und sie trotzdem intensiv wahrnehmen zu können. Er hört Vögel zwitschern und Bäche rauschen, er sieht Rehe am Waldrand und Autofahrer im Stau stehen. Und am Abend fällt er glücklich, zufrieden und frisch geduscht ins Bett.

  4. Jedes Rad ist anders
    Es kann mir keiner erzählen, dass sich Schwimmen anders anfühlt, wenn man die Badehose wechselt. Oder Trailrunning, wenn man die Schuhe wechselt. Aber ob ich auf einem Rennrad das Stilfer Joch hochjage, mit einem Mountainbike zur Naturnser Alm hochkeuche oder auf dem Tourenrad durch den Vinschgau fahre – das sind völlig unterschiedliche Erfahrungen. Und sie machen Radfahren zur vielleicht abwechslungsreichsten Sportart Südtirols und somit der Welt.

  5. Der Passhöhen-Orgasmus
    Wer nie mit dem Fahrrad eine Passstraße erklommen, mit letzter Kraft die Passhöhe erreicht und von einer gewaltigen Hormonausschüttung überrascht wurde, der kann mit der Überschrift wahrscheinlich nichts anfangen. Alle anderen schauen mitleidvoll auf Handballer, Tennisspieler oder Schwimmer, die sich immer nur hin und her bewegen, ohne mittendrin einen wirklichen Höhepunkt zu erreichen.

  6. Die Abfahrts-Belohnung
    Auch ein Wanderer, Kletterer oder Speedhiker erreicht vielleicht eine Art „Gipfel-Orgasmus“. Aber danach muss er den ganzen Scheiß wieder runter. Die armen Knie. Wie viel geiler ist da doch Radfahren: Windjacke an, Sonnenbrille auf, und als Belohnung für die anstrengende Auffahrt folgt eine rasante Abfahrt. Sensationelle Serpentinen statt alternativlosem Abstieg. Wer sich auf dieser rauschenden Abfahrt befindet und seinen 10 kg leichten Untersatz beherzt in die Kurve kippt, der weiß: Radfahren ist der tollste Sport der Welt.


Mittwoch, 22. März 2017

Tatort – Lagerfeuer der Nation und Spiegel der Gesellschaft (Markus)



Tatort: Sechs Buchstaben, 90 Minuten. 47 Jahre Fernsehgeschichte, 47 Jahre deutsche Geschichte. Über 1.000 Sonntage mit Mord. Als 1970 der erste Tatort lief, war Willy Brandt Bundeskanzler, Jochen Rindt war Formel 1-Weltmeister und 0,5 Liter Bier haben 70 Pfennige gekostet. Das muss lange her sein.

Die deutsche Gesellschaft hat sich stark gewandelt in den letzten Jahrzehnten, und der Tatort als ihr Spiegel hat sich mitgewandelt. Nur so konnte er überleben. Mehr als nur das: Jetzt, wo es kein „Wetten, dass“ mehr gibt, ist der Tatort – neben der Nationalmannschaft – das letzte verbliebene Lagerfeuer der Nation.

Jeder Generation ihr Medium: Den Großeltern das Radio, den Eltern das Fernsehen, uns das Internet – aber alle schauten und schauen wir Tatort. Am Sonntag um 20:15 Uhr. Wie wenn es kein Time-Shift und kein Mediathek-Streaming gäbe. Die Älteren haben sich vielleicht etwas mehr auf die Mörderjagd konzentriert, während wir Jüngeren auch die lustigsten Twitter-Kommentare auf dem Second Screen im Blick haben; unsere Eltern schauen den Tatort in der Regel zu zweit, wir schauen ihn gemeinsam mit Freunden, durchaus auch beim „Public Viewing“ in der Kneipe – selbst die Art, Tatort zu schauen, ist ein Spiegel unserer Gesellschaft und der unterschiedlichen Generationen. Aber am Sonntagabend mit einem Glas Wein in der Hand auf der Couch sitzen und Tatort schauen, das ist und bleibt Deutschland.

Mein Vater war von Anfang an dabei, er hat Timmel 1970 im Taxi nach Leipzig fahren sehen. Ich bin irgendwann in meiner Vor-Abi-Zeit eingestiegen, als mit Bienzle und Palu noch die alte Bundesrepublik das Fernsehprogramm dominierte, mit Ritter/Stark und Dellwo/Sänger aber auch schon das 21. Jahrhundert auf dem Bildschirm Einzug hielt.

Wenn man Sonntag für Sonntag Tatort schaut, merkt man gar nicht, wie sehr die Kriminalfälle den Wandel der Gesellschaft spiegeln. Erst im Rückblick wird klar, wie wir uns verändert haben: Wenn man zum Beispiel einen Schimanski von 1988 schaut und sich wundert, warum er in die Telefonzelle rennt, statt einfach das Handy aus der Tasche zu ziehen.

Wenn man wissen will, wie Deutschland im Jahr X aussah oder aussieht, sollte man einen Tatort aus dem Jahr X schauen. Wunderbare, unterhaltsame Zeitdokumente. Wie schön gemütlich Deutschland und seine Verbrecher früher waren! Heute gibt es hingegen Handys, Internet, Überwachung, Drohnen und künstliche Intelligenz – kein relevantes Thema, das nicht schon mal im Tatort aufgegriffen wurde. Und trotzdem überrascht er immer wieder mit neuen Inhalten. Ein bisschen Sozialkritik darf schon sein. Humor auch. Und Spannung sowieso. Wenn alles zusammenkommt, dann ist es ein guter Tatort. Wenn stattdessen nur wilde Action zu sehen ist, dann ist es ein Til-Schweiger-Tatort.

Das who is who der deutschen Schauspielerei war schon einmal Tatort-Kommissar: Gustl Bayrhammer, Manfred Krug, Götz George, Hannelore Elsner, Jan Josef Liefers, Joachim Król, Nora Tschirner usw. Und weil es anscheinend nicht so viele deutsche Schauspieler gibt, hat Martin Brambach in elf (!) verschiedenen Tatort-Fällen als Nebendarsteller mitgewirkt, bevor er 2016 in Dresden zum Kommissariatsleiter wurde.

Erst 1981 gab es (mit Hanne Wiegand) die erste Frau als Ermittlerin – die später von ihren Kollegen aus dem Job gemobbt wurde. Heute wundert sich niemand mehr über weibliche Ermittler – in Dresden gibt es sogar das erste Frauen-Duo. Dortmund (wo auch sonst?) hat uns mit Nora Dalay alias Aylin Tezel die erste Kommissarin mit türkischem Migrationshintergrund beschert, in Köln (wo auch sonst?) gibt es endlich den ersten bekennenden Homosexuellen. Und von den Einzelkämpfer-Kommissaren haben nur Lindholm und Murot überlebt – im 21. Jahrhundert arbeitet und ermittelt man eben im Team. Der Tatort als Spiegel unserer Gesellschaft.

Das Private und insbesondere die Vereinbarkeit von Familie und Beruf spielen im Tatort heute eine viel größere Rolle. Früher ist Bienzle von der Arbeit nach Hause gekommen, hat den Hut und somit die Arbeit an die Garderobe gehängt, von Hannelore gab es Begrüßungskuss und Abendessen und die Welt war wieder in Ordnung. Heute ist Anna Janneke mit ihrer rund-um-die-Uhr-Doppelrolle als Patchwork-Mama und Kommissarin komplett überfordert, und es ist irgendwie überhaupt nichts mehr in Ordnung – der Tatort als Spiegel unserer Gesellschaft.

Der Tatort zeigt nicht nur den Wandel unserer Gesellschaft, er zeigt auch die Vielfalt der deutschen Gesellschaft. Das raue Duisburg von Schimanski und Thanner, das multikulturelle Köln von Ballauf und Schenk, das kühle Kiel von Borowski und Brandt, das verschrobene Franken von Voss und Ringelhahn – das alles ist Deutschland. Der Dialekt der saarländischen Sekretärin, die Fußballbegeisterung von Kossik, der Humor von Thiel und Boerne – das alles ist Deutschland.

Natürlich unterscheidet sich die Qualität von Woche zu Woche. Wenn der Tatort aus Wiesbaden oder Dortmund kommt, dann können auch HBO-Serien nicht mithalten. Wenn Ludwigshafen und Konstanz laufen, kann man sich wenigstens 90 Minuten lang über den schlechten Tatort auslassen. Aber auch wenn der Tatort nicht immer überzeugen kann: Routine tut gut in einer scheinbar aus den Fugen geratenen Welt. 90 Minuten ohne E-Mail-Terror und ohne islamistischen Terror. Einfach nur mit einem Mord und einem Glas Wein. Am Anfang spielt Udo Lindenberg Schlagzeug, und am Ende wird der Mörder gefunden und die Welt ist gerettet. Seit 47 Jahren.

Tatort: 6 profane Gründe für den Mordserfolg (Fabian)

Der Erfolg des Tatort ist ein nahezu unbeschreibliches Phänomen. Nahezu! Dabei gibt es unzählige Erklärungsversuche. Wärend die einen behaupten der Erfolg beruhe auf einer ziemlich genauen Abbildung der deutschen Gesellschaft deckt dieser Blogartikel die simplen Motive auf die den Erfolg der Krimireihe ausmachen.  
Tatort: 6 profane Gründe für den Mordserfolg

Erfolg durch Gesellschaftskritik? Wohl eher nicht.

Wohl um den nahezu unheimlichen Erfolg zu erklären hält sich hartnäckig die These, der Tatort sei deshalb so beliebt, weil er die Komplexität der Gesellschaft abbildet, weil er sozusagen deren Spiegel ist. Was für eine elitäre Theorie. Zunächst gibt es ja nicht „den Tatort“; jeder Rundfunk hat andere Drehbuchschreiber, Drehorte und Schauspieler.

Zudem ist ein Krimi per se nie ein Abbild der Gesellschaft. Knapp 300 Morde gibt es jährlich in Deutschland. Die Tatort-Reihe kommt im Jahr 2016 auf 162 Morde. Deutschland, Land der Mörder und Zuhälter, möchte man meinen, wenn man die Gesellschaft anhand des Tatorts rekonstruieren möchte. Dazu kommt: währen die Anzahl der Morde in der „echten“ Gesellschaft stetig abnimmt (-40% in den letzten 15 Jahren) nimmt sie im Tatort immer weiter zu (2016 war das „blutigste“ Jahr überhaupt).

Regisseure, Drehbuchschreiben und Rundfunkanstalten müssen Erfolge produzieren. Für Millionen von Zusehern. Und Millionen bekommt man nicht durch para-akademische Milieukritik vor den Bildschirm.

6 profane Gründen die uns an den Bildschirm fesseln

Der Erfolg des Tatorts lässt sich mit 6 eher simplen Gründen erklären. Tatort, das ist eine Krimireihe der Gegensätze. Sie ist sowohl abwechslungsreich als auch kontinuierlich, gleichermaßen vorhersehbar wie überraschend und ebenso altbacken wie modern.

1.      Abwechslungsreich: „Den Tatort“ gibt es nicht. Jeder Drehort hat seine abgegrenzte, in sich abgeschlossene Handlung. Und jede ist unterschiedlich. Altbacken-traditionell in Köln oder München, skurril in Münster, unterhaltsam in Dortmund, sozialkritisch in Berlin und so weiter. Es ist Teil der Faszination, dass es jede Woche um einen anderen Aspekt geht. 20 Shades of Krimi könnte man sagen – nicht nur dass jeder Geschmack dadurch abgedeckt wird: jeder hat seinen Favoriten. Das sorgt für Gesprächsstoff am Montag im Büro. 

2.      Kontinuativ: Nein, das ist kein Gegensatz zu Punkt 1. Die Krimireihe schafft es vielmehr den Bogen zwischen den 2 Punkten zu schlagen. Mal ehrlich: wie viele Fernsehfilme mit fortlaufenden Handlungen gibt es im deutschen Fernsehen? Ok, auch der Tatort hat keine Cliffhanger a là Breaking Bad, aber meist einen Handlungsstrang der über 90 Minuten hinausgeht. Im Unterschied zu so gut wie allen anderen Krimis im TV. Dies sorgt für Spannung, dafür dass sich Insider noch tiefer drin fühlen und dafür dass sich echte Charaktere entwickeln können.

3.      Vorhersehbar: Am Anfang wird gestorben, mittendrin wird aufgedeckt, am Ende ist alles gut. Wenn es eine Beschreibung für „den Tatort“ gibt, dann diese. Was trifft die deutsche Seele besser als diese Abfolge. Man geht den Dingen auf den Grund, findet raus dass etwas ziemlich falsch läuft und bringt es in Ordnung. Wenn es sehr kompliziert ist, spricht Anne Will in gediegener Runde noch eine Stunde darüber. Wenn dann wirklich alles geklärt ist geht’s zum Zähneputzen und dann ab ins Bett. Der Mensch ist eben doch ein Stück weit ein Gewohnheitstier. 

4.      Überraschend: Ein Krimi hat viele Facetten, einige von ihnen kennen wir zur Genüge, andere hauen uns geradezu aus den Socken. Gerade wenn es keine klassische Gangsterjagd oder keinen „Aufklärungskrimi“ gibt, ist der Überraschungseffekt groß. Elemente wie einen Erzähler der durch die Handlung führt, ein Stück-im-Stück oder ähnliches sorgen für die ganz besondere Würze.

5.      Alt: Keine 10 Seiten ist die Bibel alt, bis der erste Mord passiert. Seit Kain und Abels „Tatort“ hat sich nicht viel verändert. Niedrige Motive erklären, in ihrer Einfachheit, einen großen Teil des menschlichen Handelns. Und sie sind so schön Zeitlos und für jeden Verständlich. Meine Oma kann sich genauso gut eine eifersüchtige Ehefrau vorstellen wie es ein Handwerker im Mittelalter konnte oder ein IT Ingenieur der Zukunft können wird. Darauf baut der Sonntagskrimi, unverändert seit mehreren Jahrzehnten.

6.      Neu: Es gibt wenige Fernsehereignisse, die es in den Twittertrends ganz nach oben schaffen. Neben Sportübertragungen und dem Dschungelcamp wohl nur Tatort. Da werden laufend Handlungen kommentiert, schlechte Ausgaben verrissen und es wird laufend kommentiert. Man hat den Eindruck, Tatort wird in Zeiten von Onlinemediatheken nur deshalb pünktlich um 20.15 angesehen, damit man ihn auf dem Second Screen auf Twitter verfolgen kann.

Mittwoch, 1. Februar 2017

Warum ich nicht bei Amazon kaufe (Markus)


Verödete Innenstädte, arbeitslose Verkäuferinnen, aussterbende Geschäfte: Daran ist weder Angela Merkel schuld, noch „die Ausländer“, noch die SPD. Sondern Menschen wie Sie und ich, die gerne online shoppen.

Ich kenne Julia vor allem von den alljährlichen Faschingssitzungen der KGS – dem lustigsten Anlass, in mein Heimatdorf Schöllkrippen zu fahren. Manchmal sehe ich sie auch in der Lesekatze, dem Buchladen in meinem Heimatdorf. Dort kann man stöbern, sich von Julia und ihren Kolleginnen beraten lassen und schöne Bücher kaufen. Oder man bestellt im Online-Shop der Lesekatze und holt die Bücher in der Filiale ab. Oder man lässt sich die Bücher nach Hause liefern. Fast so wie bei Amazon. Nur in sympathisch*. 

Anders als Amazon organisieren die Damen von der Lesekatze auch kulturelle Veranstaltungen. Real-World und Face-to-Face und so. Von StandUp Lesung über Literaturwanderung bis FrauenLeseNacht. Es sind Veranstaltungen wie diese, die das Leben auf dem Land lebenswert machen. Wenn es schon kein Kino und keine Konzerthalle gibt, dann wenigstens einen irischen Krimiabend.

Schwimmbad und Sportplatz gibt es in meinem Heimatdorf auch – aber nur, weil es Unternehmen gibt, die Steuern zahlen. Und zwar dort, wo sie Umsatz machen. Amazon gehört da leider nicht dazu.

Viele Menschen kaufen Ihre Bücher und sonstigen Kram trotzdem lieber bei Amazon. Weil es so schön bequem ist. Und weil sie scheinbar viel Geld sparen (was bei Büchern ja überhaupt nicht zutrifft, Stichwort Buchpreisbindung). Und weil sie scheinbar Zeit sparen (wie oft sind Sie schon am Postschalter in der Schlange gestanden, um ein online bestelltes Päckchen abzuholen?). Und weil ihnen Datenschutz völlig schnuppe ist (haben Sie schonmal bei „Liste finden“ auf Amazon die Mailadressen von Freunden und Verwandten eingegeben?)**.

Wenn man seine Bücher und Klamotten und Damenbinden und Olivenöl und Funklautsprecher bei Amazon kauft, dann hat man zwar teilweise einen persönlichen Nutzen. Aber man trägt aktiv zur Verödung der Innenstädte bei. Und zu den nervigen Lieferfahrzeugen, die ständig die Fahrradspur vollparken. Man sorgt dafür, dass kleine Innenstadtgeschäfte durch gesichtslose Lagerhallen auf der grünen Wiese ersetzt werden. Und dafür, dass Verkäuferinnen und Schauwerbegestalter ihren Job verlieren. Dafür, dass Bücher und andere Produkte nur noch gerankt und vermessen und ausgewertet werden – und nicht mehr geliebt und geschätzt. Kurzum: Dafür, dass unser Sozialleben immer häufiger mit einem A beginnt. 

Die Konsumenten haben die Macht. Sie entscheiden, ob sich ein Einkaufszentrum rentiert und ob der kleine Laden um die Ecke überlebt. Ob wir unser Leben im Cyberspace verbringen wollen oder in einem attraktiven öffentlichen Raum. In Amerika mit seinen pervertierten großflächigen Einzelhandelsstrukturen betreibt Amazon mittlerweile sogar automatische Supermärkte, bei denen die Lebensmittel, die man in den Einkaufskorb legt, automatisch abgerechnet werden. Und alle Kassiererinnen arbeitslos sind. Andere finden das genial, ich finde das asozial. Wenn es in unserem Leben nur um eine algorithmisierte Rationalität ginge, dann könnten wir uns gleich durch Roboter substituieren lassen. 


Bevor ich mich zu sehr zum Moralapostel aufschwinge: Ich muss gestehen, dass ich mittlerweile selbst auch wieder einen Amazon-Account habe. „Audible“ ist einfach ein tolles Angebot für Hörbuch-Freunde, das noch niemand anders offeriert. 150.000 Hörbucher im Angebot, eines pro Monat im Abo: Einzigartig. Aber so wie dem „Kindle“ der sympathischere „Tolino“ gefolgt ist, wird „Audible“ vielleicht auch bald die „HörBar“ folgen, in der man  150.000 Hörbücher bestellen und mit einem Teil seiner Abogebühr einen Buchhändler seiner Wahl unterstützen kann

Das wäre eigentlich eine tolle Geschäftsidee. 

Aber soll bitte jemand anders gründen. Ich verbringe meine Freizeit lieber damit, Bücher zu lesen.

Bücher, die ich irgendwo gekauft habe.

Hauptsache nicht bei Amazon.


P. S.: Martin Schulz, ein gelernter Buchhändler, könnte der nächste deutsche Bundeskanzler werden. Können Sie sich einen gelernten Amazon-Algorithmen-Optimierer, der nur Zahlen und keine sozialen Kontakte kennt, als Kanzlerkandidat vorstellen?

* Selbstverständlich gibt es noch viele andere sympathische Amazon-Alternativen, z. B. die Osiandersche Buchhandlung, die Bücher klimaneutral per Lastenfahrrad ausliefert.

**Ok, ich gebe zu, das mit dem Datenschutz ist kein Argument. Den gibt es in der Dorf-Buchhandlung auch nicht. Wie schreibt Juli Zeh in Unterleuten so treffend: „Man musste nur ein handelsübliches Dorf besuchen, um zu verstehen, was der gläserne Mensch tatsächlich war.“ Unterleuten ist übrigens ein großartiges Buch – das man natürlich auch bei derLesekatzebestellen kann.

gesehen in: Istanbul

Warum ich gerne bei Amazon kaufe (Fabian)

Ich gehöre laut gängiger Definition wohl zur dunklen Seite der Gesellschaft. Und das nicht weil ich ab und zu mit dem Fahrrad ohne Licht fahre oder meinen Teebeutel samt Metallklammer in den Biomüll werfe.

Ich kaufe bei den bösen Jungs: nicht bei denen im Bahnhofspark – viel schlimmer! Artikel von A bis Z bieten sie an und in wenigen Jahren haben sie es geschafft, den Handel komplett umzukrempeln.

„Pfui!“ werdet ihr jetzt sagen. Amazon gefährde Arbeitsplätze und verdränge den wunderschönen, alten, traditionellen Handel. Und wie schön es doch sei, in einen klassischen Buchladen zu gehen und an klassischen Büchern zu riechen.

Es gibt viele Gründe, warum ich das anders sehe. Abgesehen davon, dass auch im schönen alten Handel mit sehr harten, kapitalistischen Bandagen gekämpft wird und es sehr viel weniger romantisch zugeht als so mancher glaubt gibt es sehr viele gute Argumente für e-Commerce im Allgemeinen und Amazon als einer seiner Speerspitzen.

Nostalgie oder Fortschritt?

Was die ach so gut riechenden Bücher betrifft: Ich habe noch niemanden kennengelernt, der ein Kindle gekauft hat und nachher auch nur einen Gedanken an die dicken Schwarten an Papier verschwendet hat (wo ein Megabyte Text noch 1000 Seiten benötigt und 3kg wiegt). Johannes Guttenberg hätte seine Bibel wohl kaum mit Druckerpressen hergestellt, wenn er die Möglichkeit gehabt hätte, sie auch in seinen Laptop zu tippen und über digitale Kanäle zu vermarkten.

Die Revolution und ihre Früchte

Sich gegen den Fortschritt zu stellen, weil er den Status quo gefährdet, das hat uns noch nie weitergebracht – und das hat auch noch nie funktioniert.

Kaufen wir beim kleinen Laden um die Ecke und bilden uns ein, dann bliebe alles so, wie in der guten alten Zeit? In dem Fall verzichten wir am besten auch auf automatisch gefertigte Güter wie PKWs, Fernseher oder Kühlschränke. Die Maschinen, die für ihre Herstellung verwendet wurden, haben Millionen von Menschen arbeitslos gemacht. Verwenden wir doch auch kein Online-Banking mehr und keine Geldautomaten – wir gefährden damit die Bankbeamten existentiell. Oder unsere Kleidung: am besten tragen wir nur noch Bekleidung die ein Schneider in Handarbeit gefertigt hat. Wir müssen nur sicher gehen, dass er keine Nähmaschine verwendet hat – diese hat nämlich mindestens einen Assistenten ersetzt.

All die Revolutionen der vergangenen Dekaden hatten ihre Schattenseiten, brachten neben Gewinnern auch Verlierer hervor. All diese Revolutionen haben aber auch dafür gesorgt, dass die heutige Mittelschicht viel besser lebt, als der Hochadel vor der 1. Industriellen Revolution. Von den Arbeitern ganz zu schweigen. Heutige Standards in Medizin, Mobilität, Kommunikation – all das wäre ohne die Amazons der Vergangenheit nicht möglich gewesen.

Die Revolution und ihre Feinde

An Lobbys, die aktuelle Veränderungen bekämpfen, mangelt es nicht. Verlage und Plattenlabels fürchten um ihre Vormachtstellung, ebenso wie es die Kirche tat, als der bereits zitierte Gutenberg die Bibel verbreitete. Und Brick-and-Mortar Einzelhandelsketten folgen entweder der Digitalisierung oder stellen sich gegen sie.

Wir können versuchen, die 4. Industrielle Revolution zu bekämpfen – aber abgesehen davon ob es überhaupt möglich ist: sinnvoll ist es nicht.

Die Revolution und ihre Chancen

Jede Revolution hatte ihre Zugpferde (Transatlantic Railway, Ford, Toyota etc.), die zunächst mal für sehr viel Verwirrung gesorgt haben. Zugleich haben sie aber dafür gesorgt, dass Kundenbedürfnisse besser gedeckt werden können, dass Grenzkosten sinken und mehr Menschen an Konsumprodukten teilhaben können. Dieses Mal wird es nicht anders sein. Man denke an das Potential des e-Commerce für die alternde Gesellschaft. Als Gegenpol für die Landflucht. Als Fanal dafür, dass man nicht zwanghaft in der Innenstadt der Hauptstadt wohnen muss, um dazuzugehören, um das konsumieren zu können wovon alle sprechen.

Klar, in einigen Branchen wird die zunehmende Digitalisierung Arbeitsplätze kosten. An anderer Stelle werden aber Arbeitsplätze entstehen, etwa im Projektmanagement, in der Logistik, im e-Kundendienst oder in neuen Anwendungsbereichen des digitalen Marketings um nur einige zu nennen. Oder, um das nicht zu vergessen, die Chancen für kleine, lokale Hersteller die ihre Produkte online vertreiben wollen. Amazon übernimmt - gegen Kommission - Lagerung, Vermarktung und Vertrieb. Eine gigantische Gelegenheit für jeden, vom Pantoffelschneider bis zum handwerklichen Möbelproduzenten – hier eröffnen sich für neue Welten.

Ein letzter Satz noch: Amazon, wie jedes privat organisierte Unternehmen, ist keine Gruppe von Philanthropen. Nichts was Jeff Bezos macht, geschieht aus Nächstenliebe. Aber auch utilitaristische Entscheidungen können sehr viel Sinnvolles bewegen und echte Win-Win Situationen kreieren. Es sind diese Entscheidungen die am Ursprung jeder Revolution standen.

Im diesen Sinne: Ich freue mich auf die Zukunft. Und ich kaufe gerne bei Amazon.