Tatort: Sechs
Buchstaben, 90 Minuten. 47 Jahre Fernsehgeschichte, 47 Jahre deutsche
Geschichte. Über 1.000 Sonntage mit Mord. Als 1970 der erste Tatort lief, war
Willy Brandt Bundeskanzler, Jochen Rindt war Formel 1-Weltmeister und 0,5 Liter
Bier haben 70 Pfennige gekostet. Das muss lange her sein.
Die deutsche
Gesellschaft hat sich stark gewandelt in den letzten Jahrzehnten, und der Tatort
als ihr Spiegel hat sich mitgewandelt. Nur so konnte er überleben. Mehr als nur
das: Jetzt, wo es kein „Wetten, dass“ mehr gibt, ist der Tatort – neben der
Nationalmannschaft – das letzte verbliebene Lagerfeuer der Nation.
Jeder Generation
ihr Medium: Den Großeltern das Radio, den Eltern das Fernsehen, uns das
Internet – aber alle schauten und schauen wir Tatort. Am Sonntag um 20:15 Uhr.
Wie wenn es kein Time-Shift und kein Mediathek-Streaming gäbe. Die Älteren
haben sich vielleicht etwas mehr auf die Mörderjagd konzentriert, während wir
Jüngeren auch die lustigsten Twitter-Kommentare auf dem Second Screen im Blick
haben; unsere Eltern schauen den Tatort in der Regel zu zweit, wir schauen ihn
gemeinsam mit Freunden, durchaus auch beim „Public Viewing“ in der Kneipe –
selbst die Art, Tatort zu schauen, ist ein Spiegel unserer Gesellschaft und der
unterschiedlichen Generationen. Aber am Sonntagabend mit einem Glas Wein in der
Hand auf der Couch sitzen und Tatort schauen, das ist und bleibt Deutschland.
Mein Vater war
von Anfang an dabei, er hat Timmel 1970 im Taxi nach Leipzig fahren sehen. Ich
bin irgendwann in meiner Vor-Abi-Zeit eingestiegen, als mit Bienzle und Palu
noch die alte Bundesrepublik das Fernsehprogramm dominierte, mit Ritter/Stark
und Dellwo/Sänger aber auch schon das 21. Jahrhundert auf dem Bildschirm Einzug
hielt.
Wenn man Sonntag für
Sonntag Tatort schaut, merkt man gar nicht, wie sehr die Kriminalfälle den
Wandel der Gesellschaft spiegeln. Erst im Rückblick wird klar, wie wir uns verändert
haben: Wenn man zum Beispiel einen Schimanski von 1988 schaut und sich wundert,
warum er in die Telefonzelle rennt, statt einfach das Handy aus der Tasche zu
ziehen.
Wenn man wissen
will, wie Deutschland im Jahr X aussah oder aussieht, sollte man einen Tatort
aus dem Jahr X schauen. Wunderbare, unterhaltsame Zeitdokumente. Wie schön
gemütlich Deutschland und seine Verbrecher früher waren! Heute gibt es hingegen
Handys, Internet, Überwachung, Drohnen und künstliche Intelligenz – kein relevantes Thema, das nicht schon mal im Tatort
aufgegriffen wurde. Und trotzdem überrascht er immer wieder mit neuen Inhalten.
Ein bisschen Sozialkritik darf schon sein. Humor auch. Und Spannung sowieso.
Wenn alles zusammenkommt, dann ist es ein guter Tatort. Wenn stattdessen nur
wilde Action zu sehen ist, dann ist es ein Til-Schweiger-Tatort.
Das who is who
der deutschen Schauspielerei war schon einmal Tatort-Kommissar: Gustl
Bayrhammer, Manfred Krug, Götz George, Hannelore Elsner, Jan Josef Liefers,
Joachim Król, Nora Tschirner usw. Und weil es anscheinend nicht so viele
deutsche Schauspieler gibt, hat Martin Brambach in elf (!) verschiedenen Tatort-Fällen
als Nebendarsteller mitgewirkt, bevor er 2016 in Dresden zum
Kommissariatsleiter wurde.
Erst 1981 gab es (mit
Hanne Wiegand) die erste Frau als Ermittlerin – die später von ihren Kollegen
aus dem Job gemobbt wurde. Heute wundert sich niemand mehr über weibliche
Ermittler – in Dresden gibt es sogar das erste Frauen-Duo. Dortmund (wo auch
sonst?) hat uns mit Nora Dalay alias Aylin Tezel die erste Kommissarin mit türkischem
Migrationshintergrund beschert, in Köln (wo auch sonst?) gibt es endlich den
ersten bekennenden Homosexuellen. Und von den Einzelkämpfer-Kommissaren haben
nur Lindholm und Murot überlebt – im 21. Jahrhundert arbeitet und
ermittelt man eben im Team. Der Tatort als Spiegel unserer Gesellschaft.
Das Private und
insbesondere die Vereinbarkeit von Familie und Beruf spielen im Tatort heute
eine viel größere Rolle. Früher ist Bienzle von der Arbeit nach Hause gekommen,
hat den Hut und somit die Arbeit an die Garderobe gehängt, von Hannelore gab es
Begrüßungskuss und Abendessen und die Welt war wieder in Ordnung. Heute ist
Anna Janneke mit ihrer rund-um-die-Uhr-Doppelrolle als Patchwork-Mama und
Kommissarin komplett überfordert, und es ist irgendwie überhaupt nichts mehr in
Ordnung – der Tatort als Spiegel unserer Gesellschaft.
Der Tatort zeigt
nicht nur den Wandel unserer Gesellschaft, er zeigt auch die Vielfalt der
deutschen Gesellschaft. Das raue Duisburg von Schimanski und Thanner, das
multikulturelle Köln von Ballauf und Schenk, das kühle Kiel von Borowski und
Brandt, das verschrobene Franken von Voss und Ringelhahn – das alles ist
Deutschland. Der Dialekt der saarländischen Sekretärin, die Fußballbegeisterung
von Kossik, der Humor von Thiel und Boerne – das alles ist Deutschland.
Natürlich
unterscheidet sich die Qualität von Woche zu Woche. Wenn der Tatort aus
Wiesbaden oder Dortmund kommt, dann können auch HBO-Serien nicht mithalten.
Wenn Ludwigshafen und Konstanz laufen, kann man sich wenigstens 90 Minuten lang
über den schlechten Tatort auslassen. Aber auch wenn der Tatort nicht immer überzeugen
kann: Routine tut gut in einer scheinbar aus den Fugen geratenen Welt. 90
Minuten ohne E-Mail-Terror und ohne islamistischen Terror. Einfach nur mit einem
Mord und einem Glas Wein. Am Anfang spielt Udo Lindenberg Schlagzeug, und am
Ende wird der Mörder gefunden und die Welt ist gerettet. Seit 47 Jahren.
Haha. Da wird morgen wohl eine neue Diskussion in eurer Küche losbrechen, wenn du die Tatort-Orte in gute und schlechte Kategorien einteilst! Hoffe, ihr habt dann noch Zeit fürs Frühstück. Weiter so!
AntwortenLöschenNö, mussten leider schnell in der Bar frühstücken, die Zeit hat nicht mehr gereicht... ;)
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